Der Zorn des Herrn hat Jerusalem getroffen
1Ach, der Zorn des Herrn liegt über Zion
wie eine große, dunkle Wolke.
Wie ein Stern vom Himmel auf die Erde stürzt,
so verging Israels ganze Pracht.
Im Zorn hat Gott selbst seinen Tempel verworfen,
den Schemel, auf dem seine Füße einst ruhten.
2 Erbarmungslos hat er die Häuser und Dörfer zerstört,
in denen die Nachkommen von Jakob wohnten.
Die befestigten Städte Judas hat er niedergerissen
und seinem Zorn freien Lauf gelassen.
Über das Königreich hat er Schande gebracht
und die Mächtigen zu Boden gestürzt.
3 Der Herr hat Israel aller Macht beraubt.[a]
Als der Feind zum Angriff blies,
zog er seine schützende Hand zurück.
Er hat das Land in Brand gesteckt
wie ein loderndes Feuer,
das alles ringsum verzehrt.
4 Er spannte seinen Bogen und stellte sich auf,
die rechte Hand bereit zum Schuss.
Wie ein Feind hat er alle getötet,
die uns so lieb und teuer waren.
Zion bekam seinen glühenden Zorn zu spüren,
er goss ihn über die Häuser wie Feuer.
5 Der Herr ist Israels Feind geworden:
Er hat das Land in Schutt und Asche gelegt,
alle prächtigen Paläste hat er zertrümmert,
und die Städte machte er dem Erdboden gleich.
So stürzte er die Bewohner Judas
in immer tiefere Trauer und Leid.
6 Der Herr hat seinen Tempel niedergerissen,
als wäre er eine einfache Gartenhütte;
den Ort, an dem wir uns vor ihm versammelten,
hat er in seinem furchtbaren Zorn zerstört.
Den Festtagen und Sabbatfeiern hat er ein Ende bereitet
und selbst den König und die Priester verstoßen.
7 Nun will er von seinem Tempel nichts mehr wissen,
seinem heiligen Altar hat er den Rücken gekehrt.
Die Feinde ließ er bis in die Paläste eindringen,
die starken Mauern waren kein Hindernis mehr.
Überall hört man ihren Lärm und Geschrei,
selbst im Tempel klingt es laut wie an einem Fest.
8 Der Herr hat den Untergang Zions beschlossen,
kein Stein sollte auf dem anderen bleiben.
Und so spannte er die Messschnur über sie,
um sein vernichtendes Werk auszuführen.
Er riss Mauern und Schutzwälle nieder,
nun liegen sie allesamt in Trümmern da.
9 Die Stadttore machte er dem Erdboden gleich,
er brach die Riegel auf und zerschlug sie.
Unseren König und seine Beamten schleppte man fort,
sie müssen unter fremden Völkern ihr Leben fristen.
Es ist niemand mehr da, der uns die Weisungen Gottes verkündigt,
selbst die Propheten empfangen keine Visionen mehr vom Herrn.
10 Die erfahrenen Männer sitzen stumm am Boden,
das unsägliche Leid hat sie zum Schweigen gebracht.
Sie haben sich Staub auf den Kopf gestreut
und ihre Gewänder gegen Trauerkleider getauscht.
Auch die Mädchen von Jerusalem sind verzweifelt,
sie gehen mit gesenkten Köpfen umher.
11 Ich weine mir fast die Augen aus,
der Schmerz überwältigt mich,
und es bricht mir das Herz,
den Untergang meines Volkes mitzuerleben.
Ich musste zusehen, wie Säuglinge und kleine Kinder
auf den Plätzen der Stadt verhungerten.
12 »Ich habe Hunger! Ich habe Durst!«,
sagten sie flehend zu ihrer Mutter.
Dann brachen sie mitten auf der Straße zusammen
und blieben wie tödlich Verwundete liegen.
Ihre Mutter hielt sie in den Armen,
während ihr junges Leben erlosch.
13 Ach, Jerusalem, was soll ich dir sagen?
Hat es jemals ein solches Elend gegeben?
Wie kann ich dich nur trösten,
du geliebte Stadt meines Volkes?
So tief wie das Meer sind deine Wunden.
Wer könnte dich je wieder heilen?
14 Zwar haben deine Propheten dir geweissagt,
aber es war doch nichts als Lug und Trug;
sie deckten deine Schuld nicht auf
und wendeten das Unheil so nicht von dir ab.
Mit ihren Botschaften haben sie dich betrogen
und ein ums andere Mal in die Irre geführt.
15 Jerusalem, wer nun an dir vorübergeht,
hat nur noch Spott für dich übrig
und schüttelt bei deinem Anblick den Kopf.
Verächtlich lachend fragt einer den anderen:
»Ist das die Stadt, die als vollendete Schönheit galt,
eine Augenweide für die ganze Welt?«
16 Deine Feinde ziehen über dich her
und weiden sich an deinem Untergang:
»Wir haben sie vernichtet!«, höhnen sie.
»Auf diesen Tag haben wir lange gewartet,
und nun ist er endlich da,
wir haben unser Ziel erreicht!«
17 Der Herr hat seine Pläne ausgeführt
und hat die Drohung wahr gemacht,
die er seit langer Zeit verkünden ließ.
Erbarmungslos hat er dich zerstört,
er schenkte deinen Feinden den Triumph
und stärkte immer mehr ihre Macht[b].
18 Zion, schrei laut zum Herrn,
von jeder Mauer soll man es hören!
Lass Tag und Nacht die Tränen fließen
wie ein Bach, der niemals versiegt.
Hör nicht auf zu weinen,
ja, gönn dir keine Ruhe!
19 Steh mitten in der Nacht auf,
wenn alles außer dem Wächter noch schläft,
und flehe unermüdlich zu Gott um Hilfe.
Heb deine Hände zu ihm empor
und schütte dein Herz bei ihm aus!
Bestürme ihn mit deinen Bitten,
damit er das Leben deiner Kinder verschont,
die an allen Straßenecken verhungern.
20 Herr, sieh doch die Menschen,
über die du solches Leid gebracht hast!
Wie konnte es nur so weit kommen,
dass Frauen ihre geliebten Kinder essen?
Bis in deinen heiligen Tempel drang die Gewalt,
Priester und Propheten wurden dort totgeschlagen.
21 Kinder und Greise liegen auf den Straßen,
Mädchen und junge Männer aus meinem Volk –
sie alle durchbohrt vom Schwert der Feinde.
An dem Tag, als dein Zorn losbrach,
hattest du kein Mitleid mit ihnen,
sondern hast sie allesamt abgeschlachtet.
22 Meine Feinde hast du zusammengerufen,
sie eilten herbei wie zu einem Fest
und verbreiteten überall Angst und Schrecken.
Vor deinem Zorn, Herr, gab es kein Entrinnen!
Meine Kinder, die ich mit viel Liebe großzog,
sind nun dem Feind zum Opfer gefallen.